Was ist Neuroathletik?

Neuroathletik, nur ein Trend oder eine Revolution? Kein anderes Thema polarisiert in der Trainingswelt gleichermaßen, während es für Außenstehende sehr schwer zu erfassen ist. Was verbirgt sich tatsächlich dahinter?

 

Neuroathletik oder auch Neuroathletiktraining (NAT) beschreibt unserer Meinung nach viel mehr eine Betrachtungsweise von Training als eine bestimmte Trainingsform. Häufig wird es auch als neurozentriertes (Athletik-) Training bezeichnet. Diese Begriffsbezeichnung beschreibt den Kern des Ganzen recht gut. Bei der Neuroathletik stellt man das Gehirn und das Nervensystem (Neuro griechisch für Nerv) als bewegungssteuernde Instanz in das Zentrum. Diese Betrachtungsweise findet in der Therapie, eben der neurozentrierten Therapie, gleichermaßen Einzug wie im Training. Im Grunde genommen bedient man sich Erkenntnissen aus der Neurologie/Neurowissenschaft, einem recht jungen aber stark wachsenden Forschungsgebiet, und integriert diese in die Trainingspraxis. Daher ist auch der Begriff der angewandten oder funktionellen Neurologie geläufig. Es gibt Trainer und Therapeuten, die die verschiedenen Begriffe differenziert betrachten und voneinander abgrenzen, im Rahmen dieses Blogs verwenden wir sie synonym für ein und dieselbe neurozentrierte Betrachtungsweise.

Wo kommt die Neuroathletik her?

Der „Gründervater“ der neurozentrierten Betrachtungsweise von Training und Therapie ist Dr. Eric Cobb. Mit seinem Unternehmen bildet er international Trainer und Therapeuten aus. Das Ausbildungs-Kurrikulum von Z-Health umfasst elf Kurse sowie ein Master-Trainer Programm. Der Begriff Neuroathletiktraining wurde im deutschsprachigen Raum insbesondere von dem Sportwissenschaftler und Trainer Lars Lienhard geprägt, der damit seiner neurozentrierten Arbeit mit Athleten im Spitzensport einen Namen gab. Neben des individuellen neuronalen Profils des Sportlers konzentriert er sich auf das neuronale Anforderungsprofil (die Neuro-Athletik) der Sportart.

Wie funktioniert Neuroathletik?

Vereinfacht ausgedrückt tut unser Nervensystem drei Dinge: Input aufnehmen und weiterleiten, im Gehirn interpretieren und basierend darauf mit einem Output reagieren.

Während man sich im „klassischen“ Training meist nur auf die Biomechanik und den Output, zum Beispiel Kraft, Ausdauer oder Beweglichkeit, fokussiert, bezieht man bei der Neuroathletik den Input mit ein. Input bezeichnet sowohl alle bewusst als auch unterbewusst eingehenden Informationen und Sinneswahrnehmungen im Nervensystem (Sensorik), wie visuelle Informationen, vestibuläre Informationen (Gleichgewichtssinn) oder generell die eigene Körperwahrnehmung im Raum (Propriozeption). Das bedeutet man arbeitet verstärkt auf der Ebene des Inputs, um den Output zu modulieren. Der Output ist letztendlich das Resultat aus den eingehenden sensorischen Informationen (Input) und der Interpretation des Nervensystems, also gilt je besser der Input, desto besser der Output. Das liegt vor allem daran, dass das Gehirn ununterbrochen damit beschäftigt ist, die Umgebung zu Scannen und potentielle Vorhersagen zutreffen. Die zugrundeliegende Fragestellung des Gehirns ist stets: „Bin ich sicher?“ Denn die Sicherung des Überlebens ist die primäre Aufgabe des Gehirns.

 

Können keine klaren Vorhersagen getroffen werden, was diverse Ursachen haben kann, oder ist die Summe der verschiedenen Bedrohungen zu hoch, dann entstehen Schutzmechanismen, die den Output bremsen. Ein gesteigerter Output nach einer erfolgreichen Übung lässt sich also vor allem dadurch erklären, dass das Gehirn die Situation als sicherer interpretiert und somit die „Handbremse löst“.

 

Output kann die Steigerung von Kraft oder Beweglichkeit sein, genauso wie die Reduktion von Schmerzen. Auch Schmerz ist ein Output und basiert auf der Interpretation des Gehirns anhand der eingehenden Signale und diverser anderer bio-psycho-sozialer Faktoren. Außerdem können auch unwillkürliche Output-Prozesse, wie die reflexive Stabilität, beeinflusst werden. Durch das Schiften der Aufmerksamkeit auf den Input finden ganz neue Methoden Einzug in Training und Therapie, wie das Training der Augen oder andere Sinneswahrnehmungen. Solche Methoden sind allerdings keine neuen Erfindungen. Das Training der Augen findet in der Augenheilkunde/ Optometrie schon länger Einzug, durch das neurozentrierte Training ändert sich allerdings auch hier die Betrachtungsweise, von lokal zu global und holistisch. Der Körper operiert stets als funktionelle Einheit, daher sind alle Systeme relevant und gleichzeitig stellt jedes System eine vermeintliche Störvariable im Gesamtsystem dar. Viele Übungen im NAT zielen daher darauf ab bestimmte Gehirnareal zu aktivieren oder zu hemmen, die bei der Kreierung des Ziel-Output involviert sind.

Neuroathletik, mehr als nur Gehirnjogging?

Häufig wird Neuroathletik auch mit Mentaltraining oder Gehirnjogging verwechselt: „Ah ich weiß schon was Neuro ist, ihr trainiert das Gehirn.“ In erster Linie hat NAT nichts damit zu tun. Aber auch hier gilt, Neuroathletik ist eine Betrachtungsweise und bedient sich allen potentiellen Methoden. Visualisierung (Ideomotorik) hat beispielsweise definitiv seinen Platz im Trainingssystem. Auch andere kognitive Tests zur Regulierung der Aufmerksamkeit werden häufig verwendet. NAT ist dennoch viel komplexer und vor allem spezifischer. Alle Übungen verfolgen das Ziel die spezifische Zielbewegungen bzw. den gewünschten Output zu verbessern. Daher verwendet man im NAT viele Assessments, um die akute Auswirkung auf das Nervensystem zu überprüfen und basierend darauf individuelle Übungen zu entwickeln; „Assess don’t guess.“, ist eines der Leitprinzipien der Neuroathletik. NAT hebt die Suche nach der tatsächlichen Ursache einer Einschränkung aufs nächst höhere Level.

Eignet sich Neuroathletik nur für Athleten?

Keinesfalls! Oder doch? Alles was man benötigt, um von NAT profitieren zu können, sind Körper und Nervensystem. Daher betrachtet man im NAT auch jeden Menschen als Athleten. Deshalb eignet sich das Konzept gleichermaßen für Leistungssportler als auch Alltags-Athleten. Häufig haben insbesondere Nicht-Sportler ein komprimiertes Nervensystem. Wieso? Aufgrund eines Mangels an Bewegung und Stimuli des Nervensystems. „Use it or lose it“ spielt in der Neurologie eine noch viel größere Rolle als beim Muskelwachstum. Da unser Nervensystem an allen Prozessen im Körper beteiligt ist, können wir mit dem neurozentrierten Ansatz auch jegliches Problem adressieren und unterstützen: Leistungssteigerung, Schmerzreduktion, Verletzungsprävention, Veränderung der Körperkomposition, Verhaltensmodulation und vieles mehr.

Welche Übungen kann ich machen?

Mittlerweile findet man häufig Übungen aus der Neuroathletik im Internet, doch leider oft pauschalisiert und aus dem Kontext genommen. Nochmal: es handelt sich um eine Betrachtungsweise keine Übungsauswahl. Die sogenannten Drills in der Neuroathletik sind unendlich, da sie individuell auf den Menschen zugeschnitten werden. Ein guter Einstieg bietet der Blog von Z-Health sowie die Bücher von Lars Lienhard, da sie einen Kontext schaffen. Bist du Trainer oder Therapeut und bereit alte Paradigmen abzulegen, dann besuche selbst deine erste Fortbildung. Suchst du Übungen für dich selbst, um deine Leistung zu steigern oder hartnäckige Probleme und Schmerzen loszuwerden, dann such dir bitte einen gut ausgebildeten Trainer. Ein qualifizierter Trainer wird eine umfassende Anamnese und Assessments durchführen, um eine Art neurologisches Profil erstellen zu können. Dein Nervensystem ist mindestens so individuell wie dein Fingerabdruck; Kannst du dir eine passende Fingerkuppe mal eben auf Amazon bestellen?

Was sagen die Kritiker der Neuroathletik?

Neuroathletik spaltet derzeit die Trainerwelt. Kritik kommt vor allem aus wissenschaftlichen Fachkreisen. Eines der Hauptkriterien ist fehlende Evidenz. Hierbei wird insbesondere Evidenz hoher Klassen gefordert, wie randomisierte kontrollierte Studiendesigns und darauf aufbauende Metaanalysen. Da es sich um eine sehr junge Disziplin handelt, gibt es noch keine standardisiert durchgeführten wissenschaftlichen Publikationen, aber erste Untersuchungen wurden bereits durchgeführt. Auch die hohe Individualität des Ansatzes erschwert die Forschung. Aufgrund des wachsenden Interesses und der wachsenden Anzahl an ausgebildeten Trainern wird die Wissenschaft in den nächsten Jahren sicherlich aufholen. Dennoch gibt es sehr viel Evidenz niedrigerer Evidenzklassen. Die knapp 1000 von Z-Health ausgebildeten Trainer haben zehntausende Athleten betreut und erfolgreiche Case Studies zu berichten. „We should never wait for science to give us permission to do the uncommon.“ – Dr. Joe Dispenza.


Es ist nichts Neues, dass die Trainingspraxis der Wissenschaft in der Regel Jahre voraus ist. Darüber hinaus sind viele von Z-Health verwendete Methoden altbewehrt und lassen sich unter anderem auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen begründen. Dem ganzen Phänomen der Neuroathletik liegt die Neuroplastizität zu Grunde, die Fähigkeit der Anpassung des Gehirns an spezifische Reize, welche schon seit über 50 Jahren erforscht wird.

Weitere kritische Stimmen bezweifeln die Übertragbarkeit isolierter Augenbewegungen auf die Komplexität der Wahrnehmung und Entscheidungsfindung einer Spielsituation. Ein berechtigter Zweifel, denn Untersuchungen zeigen, dass die Wahrnehmung nur in Verbindung mit der zugehörigen spezifischen Anschlussaktion trainiert werden kann und kontextabhängig ist (perception-action coupling). Unspezifisches Wahrnehmungstraining, wie das Reagieren vor einem Bildschirm zeigt keinen Kognitionstransfer in der Praxis (far transfer).


NAT geht allerdings viel tiefer in die Materie ein und ist nicht mit anderen neuartigen technologischen Methoden aus dem „Braintraining“ gleichzusetzen. Grundlegend müssen wir erstmal verstehen, dass wir nicht mit den Augen sehen, sondern mit dem Gehirn; Etwa ein Drittel deines Gehirns ist damit beschäftigt, die Photonen des Lichts in Personen und Gegenstände deiner Umgebung zu verwandeln. Optische Täuschungen sind daher einfach möglich, da das Gehirn ein Bild basierend auf den eingehenden Signalen und Erfahrungswerten konstruiert. Fehlerhafte Informationen können vorliegen, ohne dass wir diese bewusst wahrnehmen. Visuelle Fähigkeiten gehen weit über Sehschärfe hinaus, zum Beispiel Tiefenwahrnehmung, Verfolgung von Objekten oder peripheres Sehen. Durch gezielte individualisierte Übungen können Defizite der visuellen Fähigkeiten und Verarbeitungsprozessen auf neuronaler Ebene trainiert werden.

Außerdem sind isolierte Augenübungen erst der Anfang. Aufbauend versucht man den Drill so spezifisch wie möglich an die Zielbewegung anzupassen. Bei Z-Health ist das SAID Prinzip (Specific Adaptation to Imposed Demands) von sehr hoher Bedeutung. Das SAID Prinzip besagt, dass wir uns immer an genau das anpassen was wir tun. Der Hohe Stellenwert der Partizipation in der eigentlichen Sportart oder Zielbewegung, die in Sachen Spezifität nicht zu übertreffen ist, bleibt unangetastet und unentbehrlich. Hinzu kommt der häufig indirekte Einsatz von Augenübungen mit der Intention bestimmte Hirnareale gezielt zu adressieren, um deren Integration zu verbessern; Bei Augenübungen zum Beispiel das Mittelhirn, das wiederum an anderen Aufgaben, wie beispielsweise der reflexiven Nackenstabilität, beteiligt ist.

Unser Fazit zur Neuroathletik

Letztendlich können wir Bewegung nie von Neurologie trennen. Jede Bewegung ist also „Neuro Training“, sich den Prozessen bewusst zu sein und diese darüber hinaus aktiv und zielgerichtet zu nutzen ist eine Bereicherung für jede Form von Training und Therapie. Der Mensch ist ein holistisches Ökosystem dessen Komplexität kaum zu übertreffen ist. Eine rein biomechanische Betrachtungsweise, die die bewegungssteuernden Systeme außeracht lässt wird dem menschlichen Organismus keinesfalls gerecht. Die Integration zentralnervöser Instanzen ist unabdingbar und ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir uns dessen bewusst sind, dass wir die meisten neuronalen Prozesse nicht verstehen und letztendlich kein Modell die Wirklichkeit widerspiegeln kann: „All models are wrong, but some are useful.“ – George Box. Jegliche Anpassungsprozesse des Körpers erfolgen hoch spezifisch, daher sollte unserer Meinung nach auch genau so trainiert werden. Wir hoffen, dass in diesem Beitrag klar wurde, dass das Neuroathletiktraining keinesfalls einen Ersatz für das „klassische“ Athletiktraining darstellt, sondern eine Ergänzung mit weitreichendem Potential.

 

 

Du willst Neuroathletik am eigenen Leib erleben? Dann schreib uns jetzt eine Nachricht.

 

 

Dein Team Effectus